Die Wiederkehr der Ausgrenzung: Mechanismen der Feindbildkonstruktion im historischen und aktuellen Kontext.

Nach der Analyse der traditionellen Mechanismen der Feindbildkonstruktion, wie der Sündenbocksuche, kollektiven Zuschreibungen und der Polarisierung von "Wir" gegen "Sie", ist es wichtig, auch zu betrachten, wie bestimmte politische Akteure soziale Spaltung nutzen und verschärfen, indem sie reale Fakten verschweigen.

Sozialwissenschaftler wie W. Benz und M. Brumlik betonen, dass die Suche nach Sündenböcken ein zentrales Element autoritärer und populistischer Bewegungen ist. In der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus wurden Jüdinnen und Juden für wirtschaftliche Krisen, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichen Wandel verantwortlich gemacht (vgl. Benz, 2014). Heute werden ähnliche Mechanismen auf Migrant*innen und Geflüchtete angewandt, etwa in der Debatte um „Sozialtourismus“ oder „Belastung des Sozialstaats“ (vgl. Butterwegge, 2018).

In diesem Zusammenhang ist die gezielte Instrumentalisierung des Bildes von Migrantinnen durch die populistischen Parteien ein zentrales Element ihrer aktuellen Strategie. Die Parteien spielen bewusst mit Zahlen und Statistiken, um Migranten als Belastung für das Sozialsystem oder als Ursache gesellschaftlicher Probleme darzustellen. Das Ziel ist es, die eigene Wählerschaft zu festigen und insbesondere Wechselwähler*innen durch einfache, emotional aufgeladene Botschaften zu gewinnen.

Dabei wird ein entscheidender Aspekt systematisch ausgeblendet: Die nachgewiesene, strukturelle Diskriminierung von Migrantinnen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Die zahlreichen wissenschaftlichen Studien – von Kaas & Manger (2012) bis zu aktuellen Feldexperimenten – belegen eindeutig, dass Bewerber mit ausländisch klingenden Namen oder Migrationshintergrund trotz gleicher Qualifikation deutlich schlechtere Chancen haben. Diese empirischen Befunde werden von den populistischen Parteien in ihrer Argumentation jedoch bewusst ignoriert oder verschwiegen.

Auch die groß angelegte Analyse von Koopmans et al. (2019) bestätigt: In ganz Westeuropa – und besonders in Deutschland – haben Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem aus muslimisch geprägten Ländern, deutlich schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Schneider et al. (2014) zeigen, dass Diskriminierung nicht nur auf den Namen, sondern auch auf die (vermutete) Religionszugehörigkeit zurückzuführen ist. Bewerber*innen, die als muslimisch wahrgenommen werden, sind besonders benachteiligt.

Warum ist das so? Thijssen et al. (2021) liefern eine mögliche Erklärung: Arbeitgeber haben häufig unbewusste Vorurteile und Stereotype. Selbst wenn Bewerber*innen nachweislich alle Anforderungen erfüllen, werden sie benachteiligt. Eine Meta-Analyse von Zschirnt & Ruedin (2016), die über 90 Feldexperimente auswertet, zeigt: Ethnische Diskriminierung im Einstellungsprozess ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles und anhaltendes Problem.  Und es betrifft nicht nur die „erste Generation“: Lippens et al. (2023) belegen, dass auch die Nachkommen von Migrant*innen – also Menschen, die in Europa geboren und aufgewachsen sind – weiterhin diskriminiert werden.

Die Sündenbocktheorie bietet einen Erklärungsansatz für diese Phänomene. Sie besagt, dass Gruppen, die sich in einer Situation der Frustration und Unsicherheit befinden, ihre Aggressionen auf eine bestimmte Zielgruppe verlagern. Diese Gruppe wird dann zum Sündenbock erklärt und für die Probleme der Mehrheitsgesellschaft verantwortlich gemacht. Die Zuschreibung negativer Eigenschaften und die Stigmatisierung des Sündenbocks dienen der Stabilisierung des eigenen Selbstwertgefühls und der Ablenkung von tieferliegenden gesellschaftlichen Problemen.

Die Mechanismen der Sündenbockbildung sind komplex und vielschichtig. Sie beinhalten die Konstruktion eines Feindbildes, die Vereinfachung komplexer Sachverhalte und die emotionale Aufladung der Debatte. In den Medien und in der politischen Kommunikation werden Stereotype und Vorurteile verstärkt, um die Akzeptanz des Sündenbocks in der Bevölkerung zu erhöhen. Durch die Zuweisung von Schuld und Verantwortung wird eine vermeintliche Ordnung wiederhergestellt, die die eigentlichen Ursachen der Probleme verschleiert.

Die Folgen der Sündenbockmechanismen sind gravierend. Sie führen zu Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt gegenüber den betroffenen Gruppen. Die Spaltung der Gesellschaft wird vertieft, und der soziale Zusammenhalt wird gefährdet. Darüber hinaus behindern sie eine rationale Auseinandersetzung mit den eigentlichen Problemen und verhindern konstruktive Lösungsansätze.

Solche kollektiven Zuschreibungen sind gefährlich, weil sie Individuen auf ihre Gruppenzugehörigkeit reduzieren und ihnen individuelle Eigenschaften und Erfahrungen absprechen. Sie erzeugen ein verzerrtes Bild der Realität, indem sie Stereotype verstärken und Vorurteile schüren. Die Betroffenen werden nicht mehr als Individuen wahrgenommen, sondern als homogene Masse, der bestimmte negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Forschung zu Vorurteilen und Diskriminierung (z.B. Allport, 1954; Heitmeyer, 2012) zeigt, dass kollektive Zuschreibungen – wie „kriminell“ oder „integrationsunwillig“ – die Grundlage für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bilden. In der NS-Propaganda wurden Jüdinnen und Juden als „Volksschädlinge“ diffamiert. Heute finden sich ähnliche Pauschalisierungen in rechtspopulistischen Diskursen über „kriminelle Ausländer“ oder „Integrationsverweigerer“ (vgl. Pickel & Yendell, 2018).

Die Mechanismen der Instrumentalisierung.

Die Mechanismen der Instrumentalisierung sind vielfältig. Häufig werden absolute Zahlen anstelle von relativen verwendet, um den Eindruck einer größeren Dringlichkeit zu erwecken. Beispielsweise kann die absolute Zahl von Straftaten, die von Migranten begangen werden, hoch erscheinen, ohne dass berücksichtigt wird, dass die Migrantenpopulation insgesamt ebenfalls gewachsen ist. Eine differenzierte Betrachtung der Kriminalitätsrate, also der Straftaten pro Kopf der Bevölkerungsgruppe, würde ein anderes Bild zeichnen.

Die selektive Nutzung von Zahlen ist ein wiederkehrendes Muster. Historisch wurden etwa „jüdischer Einfluss“ in Wirtschaft und Medien mit Statistiken „belegt“. Heute werden Zahlen zu Sozialleistungen, Kriminalität oder Bildungsabschlüssen von Migrantinnen oft ohne Kontext verbreitet, um Vorurteile zu bestätigen (vgl. Butterwegge, 2018; Tagesschau, 2023). Studien wie die von Kalter et al. (2016) zeigen, dass solche Darstellungen die Wahrnehmung von Migrantinnen in der Mehrheitsgesellschaft nachhaltig prägen.

Zudem werden oft Korrelationen fälschlicherweise als Kausalitäten dargestellt. Ein Beispiel hierfür ist der vermeintliche Zusammenhang zwischen Migration und steigender Kriminalität. Auch wenn eine Korrelation zwischen diesen Phänomenen bestehen mag, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die eine Variable die andere verursacht. Es können zahlreiche andere Faktoren im Spiel sein, die in der Analyse nicht berücksichtigt wurden.

Vergleich der Mechanismen der Feindbildkonstruktion.

Wir-gegen-sie-Rhetorik.

Die Polarisierung in „Wir“ und „Sie“ ist ein zentrales Element populistischer Kommunikation (vgl. Mudde, 2019). Im Nationalsozialismus wurde die „Volksgemeinschaft“ gegen „Fremde“ und „Feinde“ abgegrenzt. Heute wird in politischen Debatten und sozialen Medien häufig zwischen „den Einheimischen“ und „den Ausländern“ unterschieden, was die gesellschaftliche Spaltung vertieft (vgl. Hafez, 2018).

Diese rhetorische Strategie ist nicht auf extreme politische Ränder beschränkt. Auch in vermeintlich gemäßigten Diskursen finden sich subtile Formen der Wir-gegen-sie-Konstruktion. So werden beispielsweise „die Leistungsträger“ gegen „die Sozialhilfeempfänger“ ausgespielt, um bestimmte politische Maßnahmen zu rechtfertigen oder Ressentiments zu schüren. Diese Dichotomien sind selten präzise oder differenziert, sondern dienen vielmehr dazu, komplexe soziale Realitäten zu vereinfachen und Emotionen zu mobilisieren.

Die Wir-gegen-sie-Rhetorik operiert oft mit Stereotypen und Vorurteilen. „Die Anderen“ werden als homogene Gruppe dargestellt, der negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Dies erleichtert es, Ängste und Ablehnung zu erzeugen und eine Solidarisierung innerhalb der „Wir“-Gruppe zu fördern. Die Identität der „Wir“-Gruppe wird dabei oft über die Abgrenzung von „den Anderen“ definiert.

Die Auswirkungen dieser Rhetorik sind vielfältig. Sie kann zu einer Verhärtung der politischen Fronten, einer Zunahme von Hassreden und Diskriminierung sowie einer Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts führen. Zudem erschwert sie eine rationale Auseinandersetzung mit komplexen Problemen, da die Debatte durch Emotionen und Vorurteile verzerrt wird. Um der Wir-gegen-sie-Rhetorik entgegenzuwirken, ist es wichtig, Stereotypen und Vorurteile zu hinterfragen, Differenzierung und Vielfalt zu betonen und eine offene und respektvolle Kommunikation zu fördern.

Politische Mobilisierung.

Wie man sieht, ist die Konstruktion von Feindbildern ein vielschichtiges Phänomen, das tief in der politischen Psychologie verwurzelt ist. Sie bedient sich einfacher Narrative, die komplexe Sachverhalte auf überschaubare Konflikte zwischen "Wir" und "Die" reduzieren. Diese Vereinfachung ermöglicht es, Emotionen wie Angst und Wut zu schüren und auf bestimmte Gruppen zu lenken. Dabei werden oft Stereotypen und Vorurteile verstärkt oder neu geschaffen, um die Abgrenzung zu den "Feinden" zu rechtfertigen. Die populistischen Parteien haben sich als “Experten” dieser Strategie erwiesen.  Durch die gezielte Zuweisung von Schuld an Migranten, dem politischen "Establishment" oder den "Mainstream-Medien" gelingt es ihr, ein Gefühl der Bedrohung und des Kontrollverlusts in Teilen der Bevölkerung zu erzeugen. Dieses Gefühl wird dann genutzt, um die eigene politische Agenda als einzige Lösung darzustellen und Wählerinnen an sich zu binden. Historisch wurde so Zustimmung für Ausgrenzung und Gewalt geschaffen. Heute nutzen populistischen Parteien diese Mechanismen, um Wähler*innen zu gewinnen und von anderen Problemen abzulenken (vgl. Decker, 2020)

Fazit.

Die populistischen Parteien nutzen also nicht nur die klassischen Mechanismen der Feindbildkonstruktion, sondern verschärfen die gesellschaftliche Spaltung, indem sie reale Diskriminierungserfahrungen von Migrant*innen unsichtbar machen. Das Ziel ist nicht die Lösung gesellschaftlicher Probleme, sondern die Mobilisierung und Radikalisierung der eigenen Anhängerschaft – auf Kosten von gesellschaftlichem Zusammenhalt und Chancengleichheit. 

Sie spalten die Gesellschaft, untergraben den politischen Diskurs und können im schlimmsten Fall zu Gewalt und Verfolgung führen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, die Mechanismen der Feindbildkonstruktion zu verstehen und ihnen aktiv entgegenzutreten. Dies erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen, eine differenzierte Betrachtung der Realität und den Mut, sich gegen Hass und Hetze zu stellen.

Quellen:

Benz, W. (2014): Antisemitismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart.

Butterwegge, C. (2018): Rechtspopulismus, Sozialstaat und Migration.

Heitmeyer, W. (2012): Deutsche Zustände.

Mudde, C. (2019): The Far Right Today.

Lippens et al. (2023): "Hiring Discrimination against Second-Generation Migrants in Europe.

Zschirnt & Ruedin (2016): "Ethnic Discrimination in Hiring Decisions: A Meta-Analysis of Correspondence Tests 1990–2015"

Thijssen et al. (2021): "Why Are Employers Biased Against Foreign Names? A Field Experiment"

Schneider et al. (2014): "Discrimination of Migrants in Germany: Evidence from a Field Experiment"

Koopmans et al. (2019): "Ethnic Penalties in Western European Labour Markets"

Kaas & Manger (2012): "Ethnic Discrimination in Germany’s Labour Market: A Field Experiment"

Louis Lippens Siel Vermeiren, Stijn Baert a c (2023)- The state of hiring discrimination: A meta-analysis of (almost) all recent correspondence experiments.

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